Ausbruch

 

Aus meinem Buch "Momente"

Eng war ihre Welt, zu eng für sie. Das war nicht immer so gewesen, erst vor kurzem hatte sie es bemerkt, aber es schien ihr, als würde es jeden Tag schlimmer. All das, was ihr so angenehm vertraut erschienen war, empfand sie nun als langweilig, ja geradezu als bedrückend. Keine neuen Perspektiven, keine Veränderungen, keine neuen Eindrücke bahnten sich an, die ihrem Dasein neuen Sinn hätten geben können. Sie blickte nachdenklich auf ihren Körper. Augen, Hände, Finger, Füße, Geist - alles an ihr war gesund. Und doch fühlte sie, dass sie sich nur unzureichend betätigen konnte, dass sie all jene Fähigkeiten, deren Vorhandensein sie nur erahnen konnte, ungenutzt in sich schlummern lassen musste.

Andererseits wusste sie auch um die Behaglichkeit ihrer Situation, denn sie ahnte, dass andere Menschen, freiere Menschen, auch andere, größere Sorgen haben mussten. Immer wieder gab es Momente, in denen sie ihre Mutter Dinge sagen hörte, die sie nicht verstand: „Bald habe ich es hinter mir!“; „Wenn bloß schon alles vorbei wäre!“; „Ja, ein wenig habe ich Angst davor“. Da war sie froh, dass sie von schweren Aufgaben verschont blieb.

Dennoch ließ der Wunsch nicht ab von ihr, wegzugehen, auszubrechen, und ganz auf sich allein gestellt andere Welten kennen zu lernen. Sie ahnte, dass es draußen (sie nannte alles ‚draußen’, was sie außerhalb ihrer vertrauten Umgebung vermutete), dass es also draußen ungemein spannender und abwechslungsreicher sein musste als hier. Interessante Menschen und Landschaften, Städte, Meere, Berge, Sterne, Pflanzen und Tiere; all das wollte sie kennen lernen, von all dem hatte sie gehört, nicht viel, aber genug, um ihr Interesse zu wecken. Ja, sie würde ausbrechen!

Aber hatte sie nicht auch von Pflicht gehört? Davon, dass Vater und Mutter, so wie die meisten anderen, durchaus nicht immer das tun konnten, wonach ihnen gerade war? Und hatte sie sich dann nicht gefragt, ob die Menschen "draußen" nicht noch eingeengter waren, als sie selbst? Und hatte sie nicht vieles von dem, was sie gehört hatte, nicht verstanden? Zahlte es sich aus, soviel zu lernen, um letzten Endes vielleicht doch zu stranden in einer fremden, kalten Welt? Nein, sie würde hier bleiben.

Und schließlich fragte sie sich, ob sie überhaupt das Recht hatte, auszubrechen. Ob es nicht eher so wäre, dass jeder Mensch an seinen Platz gesetzt wurde und es seine Aufgabe war, einfach das Beste aus seiner Situation zu machen. Das wäre ja auch eine Frage der Verantwortung, meinte sie, und gewiss hatte auch sie, hier in ihrer engen Welt, einen Nutzen für die anderen. Sie konnte zwar nicht wirklich erahnen, welcher das wäre, dennoch schien es ihr unrecht zu sein, das alles hier einfach zu verlassen. Aber warum? Schließlich ging es doch um ihr Leben, und ihre erste Verantwortung musste doch ihr selbst gelten. Aber da war sie nicht ganz sicher.

So brachte sie ihre Tage zu, hin und her gerissen zwischen Neugier und Angst, Tatendrang und Faulheit, zwischen mutigem Sprung ins kalte Wasser und behaglichem Geborgensein im vertrauten Nest. Aber mit jedem Tag spürte sie die Enge ihrer Welt stärker, mit jeder Stunde wuchs ihr Interesse an der Welt "draußen" und immer besser fühlte sie sich gewappnet, bestehen zu können. Nun war sie sicher, dass sie es schaffen würde.
Da beschloss sie, geboren zu werden.