Aus meinem Buch "Finale"
Als Ende der Neunzigerjahre die ersten Computer mit bunten Bildschirmen auf den Markt gekommen waren, konnten sie gerade einmal sechzehn Farben darstellen. Das war Markus durchaus ausreichend erschienen, denn wie viele Farben gab es denn? Rot, Gelb, Grün, Blau, Orange, Braun, Türkis und Violett. Zusammen mit Weiß, Schwarz und Grau waren es also insgesamt elf und klarer Weise mit sechzehn Möglichkeiten mehr als abgedeckt. Allerdings erinnerte er sich auch daran, dass Bilder nicht besonders natürlich gewirkt hatten und die Steigerung auf 256 Farben ein paar Jahre später war doch eine deutliche Verbesserung gewesen, auch wenn er niemals so viele Farben benennen konnte. Sicher, aus Prospekten wusste er, dass man Autos in Saharasand kaufen konnte, in Gravity, Temptation oder Aurora. Aber allesamt waren das vom Marketing künstlich erdachte Begriffe für Gold, Blau, Rot oder Schwarz, deren einziger Sinn es war, das Fahrzeug teurer verkaufen zu können.
All das ging Markus in diesem Moment wieder durch den Kopf. Seine Frau und er waren eingeladen und wollten in Kürze das Haus verlassen. Auf Emmas Frage, welche Farbe sie anziehen solle, hatte er wie aus der Pistole geschossen geantwortet: „Rosa“, voller Stolz, den Kleiderkasten seiner Frau so gut zu kennen.
„Rosa?“, fragte sie empört. „Was für ein Rosa? Das passt ja gar nicht zu mir. Ich habe auch kein einziges Stück in dieser Farbe!“
„Doch, doch“, antwortete Markus immer noch eifrig. „Die hübsche Bluse, die wir letzen Sommer in Venedig gekauft haben. Die müsste doch recht gut passen.“
Emma stöhnte. „Ach die. Aber die ist doch nicht pink! Sie ist apricot und dafür habe ich jetzt schon den falschen Nagellack.“
Jetzt schüttelte Markus den Kopf. „Hast sie du nicht damals lachsfarben genannt? Und Lachs ist doch rosa.“
„Lachs ist nicht rosa, Lachs ist Lachs“, gab sie zurück. „Und die Bluse ist apricot. Lachsfarben ist das Top aus Ibiza, bei dem ist mir aber der Ausschnitt zu tief. Welche Farbe hat denn deine Krawatte?“
Markus wollte schon antworten: „Blau“, ließ es aber bleiben. Das war nicht ihre erste Debatte in dieser Art und er wusste, dass es für ihn nichts zu gewinnen gab. Erstens war sein Farbsinn stark eingeschränkt und schon gar nicht kannte er so viele Namen. Zum Zweiten aber lagen sie oft auch nicht so weit auseinander, sahen aber trotzdem nicht dasselbe. Was für ihn türkis war, nannte sie Aquamarin, bei lila unterschied sie zwischen Orchidee und Lavendel. Weil Punkt eins aber eben Emma zur Expertin machte, hatte Markus akzeptiert, dass es für ihn in dieser Frage nichts zu gewinnen gab. Also antwortete er lapidar: „Ich komme zu dir, sieh sie dir einfach an.“
Wie erwartet, war seine Krawatte nicht blau, sondern indigo mit lavendelfarbigen Ornamenten. Immerhin aber räumte Emma ein, dass rosa nicht so schlecht dazu gepasst hätte. Apricot hingegen ginge gar nicht.
„Ich kann auch eine andere Krawatte nehmen, vielleicht eine braune, dann kannst du grün tragen“, versuchte Markus zu helfen. Aber seine geliebte Frau verdrehte nur die Augen ob seiner Naivität.
„Lass nur, ich werde schon etwas finden“, sagte sie.
Endlich saßen die beiden im Auto. Ein paar Minuten später als geplant waren sie weggekommen, aber das sollte kein Problem sein, hatte Markus gedacht. Nun aber war er nicht mehr so sicher, denn schon zum vierten Mal stoppte eine rote Ampel seine Fahrt. Emma hatte sich schließlich doch entschieden. Nach ihren Worten trug sie ein tailliert geschnittenes, leicht stretchiges Etuikleid in der Trendfarbe „rush-blush“ mit weitem Rundausschnitt und einem Ripsband auf Taillenhöhe, im selben Navy-Ton wie der kurze Blazer.
„Sehr schön!“ hatte er gesagt und auch gemeint, seine weiteren Gedanken aber nicht auszusprechen gewagt, sonst hätten sie es wohl nie ins Auto geschafft. Nun aber, an der roten Ampel, kam es doch wieder in ihm hoch. „Rush-blush“ und „navy“ also. Er hatte rosa und dunkelblau gesehen. Konnten Frauen wirklich um so viel feinere Farbnuancen wahrnehmen als Männer? Oder hatte diese Vielfalt für ihn einfach nicht die richtige Bedeutung? War dieses Betonen von Details ein Werkzeug, sich abzuheben, sich abzugrenzen von Unwissenden, sich selbst einen Wert zu geben? Handelte es sich um eine Art Balzverhalten, wie wenn Männer über die Abseitsfalle im Fußball sprachen oder in Kürzeln wie ABS, ESP oder LDW, die allesamt Fahrassistenz-System im Auto meinten? Aber das war ja technisch beschrieben und begründbar, ganz anders als Farben. Konnte Emma nicht auch einmal einfach von gelb oder braun sprechen?
„Willst du nicht fahren?“, fragte sie und riss ihn damit aus seinen Gedanken, bevor sie ihn endgültig verwirrte, als sie ergänzte: „Es ist grün!“